Es war einmal ein alter Brombeerpflücker, der lebte, so lange er denken konnte, allein im Wald und dachte deshalb, er sei allein auf der Welt. Er war fröhlich, sang viel und man könnte sich keinen glücklicheren Menschen vorstellen.
Morgens beim ersten Sonnenschein freute er sich über die silbernen Perlen auf den Blumen und dachte: „So viele Diamanten überall im Gras, nur für mich allein – wie reich bin ich doch!“
Beim Streifen durch den Wald genoss er die hohen Gewölbe, weiten Tore und die prachtvollen Säulen. „All das nur für mich, wie bin ich doch gesegnet!“
Oft lag er mittags auf dem Rücken im Gras und bestaunte die Wolken, in denen er die wunderbarsten Figuren entdeckte. Da gab es Tiere, Landschaften und vielfältig wechselnde Gewölbe die seine wundersame Zimmerdecke bildeten. „Welch eine Fülle, ganz für mich alleine!“
Den ganzen Tag wurde er begleitet von lieblicher Musik, doch ein Erlebnis ganz besonderer Erbauung bot ihm der Abend, wenn er vor seiner Hütte unter dem Lorbeerbaum saß und die Sonne verfolgte, die ihre letzten Purpurstrahlen über die Hügel sandte. Dann begann in der Ferne in der Tiefe des Waldes eine feine, hohe Stimme zu jubilieren. Sie berührte sein Herz so zauberhaft und wehmütig zugleich, dass ihm die Tränen über die Wangen rannen. Dann seufzte er ein über das andere Mal. „Danke! Danke, unbekannter Sänger! Was für eine Musik, welcher Klang! Wie schade, dass dich sonst niemand hört!"
Doch er war nicht allein. Ein Entdeckungsreisender zog nämlich durch den Wald. Eines Abends stand er plötzlich in der kleinen Hütte des Brombeerpflückers und bat um etwas zu essen und ein Bett für die Nacht. Der Alte war sprachlos. Doch dann raffte er sich auf und sprach den Fremden an: „Fremdes Wesen, darf ich dich einmal anfassen?“ Gutmütig ließ es der Gast geschehen. Der Brombeerpflücker war begeistert. Immer wieder rief er aus: „Genau wie ich! Genau wie ich!“ Er klatschte in die Hände, umarmte ihn und tanzte um den Tisch herum. „Ich bin nicht allein! Ich bin nicht allein!“
Dann tischte er von seinen Vorräten auf und erfreute sich daran, wie sein Gast aß. Immer wieder rief er entzückt. „Genau wie ich! Ganz derselbe!“
Das Goldstück wollte er jedoch nicht annehmen, da er doch Diamanten besitze. Da wurde der Besucher hellhörig. „Diamanten, wie viele denn?“ fragte er. "Genau weiß ich es nicht", meinte der Brombeerpflücker sinnend, "ein paar Wiesen voll."
Der Reisende wurde bleich und rief: „Dann seid ihr ja steinreich!“
Begeistert bestätigte der Alte diese Aussage und erzählte von all seinem Reichtum; von den unzähligen Spiegeln, die zu umrunden mehr als einen Tag braucht; von seinem Palast, so groß, dass er ihn noch nie ganz ergründet hat; von Säulengängen und Gewölben, mal grün, mal blau mit weißen Flecken. Der Reisende dachte an ein Mosaik, musste es aber dem Brombeerpflücker erklären, er kannte es nicht. Danach erwiderte er: „Oh nein, das wäre nur Kinderkram und es würde mich auf die Dauer langweilen, immer dasselbe anzusehen. Nein, hier bewegen sich die Figuren, sie ziehen langsam und würdevoll vorbei, ja, sie verformen sich zu den wunderbarsten Gestalten: Eisbären, Winterlandschaften und Kobolde mit Bärten. Selbst die Farben verändern sich: mal tiefblau, mal hellgrau, mal beides. Es ist herrlich anzusehen, ich werde es nie müde."
Der Fremde warf ein: „Ihr müsst Euch doch sicher manchmal einsam fühlen zwischen all den Säulen, Gängen und Spiegeln."
"Aber nein", meinte der Brombeerpflücker, "es gibt genug Musik, von allen Seiten und den ganzen Tag. Und abends wird besonders schön gesungen. Ihr müsst am Abend einmal lauschen. Ihr schlaft doch heute Nacht hier?"
Der Fremde lehnte ab. Er wolle sofort aufbrechen und den Menschen von seiner Entdeckung berichten. Darüber freute sich der Alte, der es schon immer als Unrecht empfunden hatte, all diese Schätze allein zu genießen. Dennoch meinte er, der Reisende könnte doch viel genauer berichten, wenn er mehr gesehen hätte. Doch den Fremden hielt nichts mehr, Zeit sei Geld, meinte er beim Abschied.
So schnell die Füße ihn trugen, kehrte er zurück in die Stadt und berichtete zunächst dem Bürgermeister, dann allen Einwohnern von seiner Entdeckung. Sofort machten sie sich alle auf den Weg. Wie erstaunt war der Brombeerpflücker, als er am anderen Morgen die Menschenmenge sah. Der Bürgermeister trat hervor und sagte: „Wir kommen die Diamanten holen, und wir wollen in dem Palast wohnen, der eine Decke aus beweglichem Mosaik und Säulen aus grünem Smaragd hat. Wir kommen, um der Musik zu lauschen, und auch die Spiegel müssen wir haben."
"Das ist ja wunderbar!" rief der Brombeerpflücker und umarmte ihn. "Ich bin froh, dass Ihr das auch zu schätzen wisst und dass Ihr begreift, wie schön das alles ist. Willkommen, willkommen!“
Der Bürgermeister wehrte ab, er hatte es eilig, die Diamanten zu bekommen. Als der Brombeerpflücker ihn auf den nächsten Morgen vertrösten wollte, wurde die Menge ungeduldig. „Warum nicht jetzt gleich? Zeit ist Geld!“
"Nein", erwiderte der Brombeerpflücker und schüttelte den Kopf, "jetzt ist es dunkel, und in der Dunkelheit sieht man die Diamanten nicht. Aber morgen früh sollt Ihr etwas zu sehen bekommen! Geht jetzt nur schlafen, wir haben alle Zeit."
Am folgenden Morgen lagen die Auen glitzernd und funkelnd unter einem roten Himmel.
An jedem Grashalm, auch am kleinsten, hingen prachtvolle, silberne Diamanten, und als die Sonne aufging, verwandelten sie sich in Topase, Smaragde und Saphire, reiner und strahlender als irdische Juwelen. Und mittendrin standen die Menschen und redeten von den Diamanten, die jetzt wohl gefunden werden sollten, ganze Wiesen voll.
Endlich kam auch der Brombeerpflücker aus seiner Hütte und ließ still seinen Blick über die Auen schweifen. Tränen standen ihm in den Augen. Er beglückwünschte die Besucher zu der besonderen Fülle der Diamanten. Die Menschen sahen sich verständnislos an, sie sahen keine Diamanten. Verblüfft fragte der Alte. „Seht ihr das nicht? Schaut doch nur!“
"Das ist Tau", sagte der Bürgermeister böse.
"Das ... das wusste ich nicht", stammelte der Brombeerpflücker.
Ungeduldig fragte der Bürgermeister nun nach den Säulengängen. Beklommen wies der Alte in die Runde. „Bäume,“ schnaufte der Bürgermeister. Das Mosaik tat er als Luft, als Himmel ab und die Spiegel erwiesen sich als Teiche. Selbst den himmlisch-feinen Gesang tat er mit einer Handbewegung ab und erklärte, das sei doch lediglich eine Nachtigall.
Die Menge war aufgebracht. Sie fühlte sich betrogen und forderte, man solle den Alten aufhängen.
"Aber ich habe doch genau geschildert, wie es ist", verteidigte sich der Brombeerpflücker.
Doch unerbittlich wiederholte die Menge laut johlend ihre Forderung.
Und als am Abend die Nachtigall ihr trillerndes Lied begann, wäre niemand mehr da gewesen, der ihr hätte lauschen können, wäre nicht ein kleines Mädchen zu dem Alten getreten, seine Arme schützend vor ihm ausgebreitet. Mit zarter Stimme forderte es die Erwachsenen auf, doch einmal richtig zu schauen. „Ich sehe auch all die schimmernden Diamanten die wunderschönen Säulen mit der grünen Kuppel darüber. Und seht nur, wie der Himmel schimmert in so vielen Farben und Figuren. Das ist das schönste Mosaik, das ich je sah. Und, und dort hinten, seht nur, wie die Sonne in den Spiegeln blinkt und glänzt!“
Als der Bürgermeister sein Töchterchen so begeistert sah, begann er zu begreifen, was „schauen“ bedeutet und eine tiefe Ehrfurcht erfüllte ihn. Schon bald stand auf der Lichtung im Wald eine staunende Menschenmenge und lauschte dem schönsten Konzert, das sie jemals gehört hatte. Beschämt senkten sie die Köpfe, dass es eines Kindes bedurft hatte, ihnen das Wunder der Natur wieder bewusst zu machen. .
Während die Menschen sich langsam entfernten, ging der Bürgermeister zum Brombeerpflücker und bedankte sich bei ihm. Er versicherte ihm, dass er nun nicht mehr allein sein würde in seinem Wald. Er wolle wiederkommen, um die Schätze und Wunder dieses Paradieses zu bestaunen. Dann nahm er sein Töchterchen auf den Arm und bedankte sich bei ihm dafür, dass die Geschichte so ein gutes Ende genommen hat – ein Ende, das einen neuen Anfang bedeutet. Und es war ihm gar nicht peinlich, dass ihm Tränen der Rührung über die Wangen liefen. Die Kleine schaute ihn glückselig an und sagte. „Papa, jetzt hast Du Diamanten im Gesicht.“
(Erzählt von HUM)
Quelle: Der Brombeerpflücker von Godfried Bomans, aus dem Buch: Alle Farben dieser Welt
Mein Dank geht an die Mitglieder eines Forums, deren Diskussion über die Geschichte mich zu dem veränderten Schluss inspiriert hat.